Weg und Reise

Eine Wegstruktur bildet das Gerüst vieler Traumerzählungen. Wege, Fahrten, Reisen eignen sich gut, um seelische Entwicklungen anzudeuten. Unser Lebensweg wird bald aus ferner, bald aus naher Perspektive nachgezeichnet. Unsere gegenwärtige Lebenssituation fliesst in die Darstellung des Weg-Motivs mit ein. Befinden wir uns auf einem abbrechenden oder auf einem weiterführenden Weg? Was sagt die sichere oder gefährliche Wegbeschaffenheit über unsere Lage aus? Wie wird durch den Charakter der Landschaft und durch die atmosphärischen Bedingungen die Grundstimmung unserer Lebenslage wiedergegeben? Wie sieht das Ziel unserer Wanderung oder Reise aus? Sind wir Teilnehmer einer Expedition, oder befinden wir uns auf der Flucht? Wer sind unsere Gefährten? Wie sind die Hindernisse beschaffen, auf die wir stossen? Zwingen sie uns umzukehren, oder können wir sie überwinden? Überwinden wir sie aus eigener Kraft, oder wird uns dabei geholfen? Gibt es einen Führer bei der ganzen Unternehmung? Ist ein Reiseplan oder Kartenmaterial vorhanden? Können wir den Plan entziffern, die Karte lesen?

«Weg» ist das Ur-Wort der alten Seelenlehre, um seelische Wachstumsmöglichkeiten, aber auch ihre Gefährdung und Behinderung darzustellen. Eine der grossen Übereinstimmungen zwischen der Psychoanalyse und den spirituellen Lehrsystemen besteht darin, dass sie den natürlichen Wachstumsprozess der Seele als gefährdet erachten. Die Ursache der Gefährdung oder Hemmung liegt in der lebensgeschichtlich bedingten Konstruktion unseres Ich-Gefüges. Um es in den Worten Meister Eckharts zu sagen: «Wir sind die Ursache aller unserer Hindernisse». Unser Ich-Gefüge setzt seiner Umgestaltung und Neugestaltung einen beharrlichen Widerstand entgegen. Die genaue Betrachtung der Wegstrukturen im Traum hilft uns dabei, die innere Wachstumslinie und die Aufgaben, die mit jeder neuen Lebensphase verbunden sind, besser zu erkennen. So lernen wir, im Prozess der Wandlung und Neugestaltung, der sich an uns vollzieht, die heilende Dimension wahrzunehmen.